
Naira träumt. Sie liegt auf einer Wiese, ihrer liebsten Wiese, weil diese so schön mit Blumen bewachsen ist und eine ausladende alte Eiche darauf steht. Von dort aus lassen sich die Wolken toll durch das Blätterdach beobachten. Naira sieht in ihnen ständig neue Formen, lachende Menschen, kleine Wesen und einmal auch einen grandiosen Wolkenhund.
Ein kleiner Spatz fliegt in ihr Wolkenbeobachtungs-Blickfeld und sie verfolgt ihn mit den Augen, als er sich neben ihr niederlässt. Auf seinem Rücken sitzt ein kleines Etwas. Ein kleines Etwas in Indianerkleidung und dem Federschmuck eines Häuptlings. Naira ist verwundert, aber nicht erschreckt. Eine Träumerin bringt nichts so schnell aus der Fassung.
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Sie streckt ihre Hand aus, auf die es vorsichtig klettert. Es bewegt seinen winzigen Mund, aber verstehen kann sie immer noch nichts. Langsam hebt sie den Arm zum Ohr und vernimmt jetzt ein leises Stimmchen: „Hallo! Ich bin Wanagi!“. Wanagi streckt seine winzige Hand aus und hebt diese zum Indianergruß. „Wanagi! Oh, hallo! Ich heiße Naira.“ Naira hebt ebenfalls ihre Hand, natürlich nicht die, auf der Wanagi sitzt. Wieder winkt Wanagi Naira heran, damit sie ihn an ihr Ohr hebt. „Ich gehöre zum Kleinen Indianer-Volk, wir wohnen dort drüben im Baum!“ Naira ist sehr überrascht und fasziniert. Ein kleines Indianer-Volk! Auf der Ranch, auf der sie lebt! Sie freut sich immer wieder, über die Ranch zu streifen und kennt überall einen Schlupfwinkel. Und jetzt also ein neues Volk, das sogar mit ihr sprechen kann! „Wir haben dich hier schon öfter im Gras liegen sehen. Du bist eine Träumerin und das ist uns sympathisch. Außerdem glaubst du noch an Magie, und das tun zu wenige Menschen. Magst du unser Dorf kennenlernen?“
Natürlich ist Naira hellauf begeistert von diesem Vorschlag. Gemeinsam gehen sie zu der alten Eiche, die das Mädchen schon immer bewundert hat. Dieser Baum strahlt eine Weisheit aus und das Gefühl, dass ihn nichts mehr erschüttern kann. Er ist alt und kennt die Geheimnisse vieler Menschen, die auf der Wiese lagen oder ihm etwas Trauriges erzählten. Und ganz unten im Gras gibt es eine kleine Leiter, gerade passend für ein Wesen vom Kleinen Indianer-Volk, die Naira trotz ihrer vielen Besuche auf der Wiese an diesem Baum noch niemals bemerkt hat. Dort beginnt Wanagi zu klettern und etwa auf Höhe ihrer Augen entdeckt Naira plötzlich eine kleine Ranch. Die sieht genauso aus wie ihre eigene, nur sind dort etwa zwanzig kleine Wesen, die wie Wanagi mit Indianersachen bekleidet herumwuseln und winken ihr zu. Naira staunt und ist ganz ungemein froh, dass sie so etwas Tolles jetzt entdecken darf. Dass diese Wesen etwas ganz Besonderes sind, daran glaubt sie vom ersten Moment an.
Sie setzt Wanagi vorsichtig inmitten der Mini-Ranch ab. Er lächelt sie an und freut sich, dass er die kleine Träumerin mit der Existenz des Kleinen Indianer-Volkes überraschen und erfreuen konnte. Sie kann sich gar nicht sattsehen an den vielen kleinen Details. Jeder einzelne der Mini-Indianer trägt eine andere Feder und andersfarbige Kleidung. Außer Wanagi trägt jedoch keiner einen Häuptlings-Kopfschmuck. In der Mitte der Ranch befindet sich ein großes Lagerfeuer und ein Totempfahl, der schützend und helfend wirkt, genau wie auf der echten Ranch. Ihr eigenes Wohnhaus findet sie. Und auch die Eiche gibt es, sogar mit einer Mini-Mini-Leiter.
Und wenn die Indianer des Kleinen Indianer-Volkes nach oben schauen, sehen sie sogar dieselben Wolken wie Naira immer.
„Naira, ich muss dir leider sagen, es gibt es auch einen ernsten Grund, warum wir dich angesprochen haben. Ich wollte dir erstmal alles zeigen, aber wir brauchen deine Hilfe!“ Alarmiert blickt sie wieder in Wanagis Augen, nachdem sie sich gerade in den Wolken verloren hatte. „Die alte Eiche soll gefällt werden! Hier leben wir und hier ist unsere Ranch. Und der Baum ist mit der Zeit weise und alt geworden und seine Blätter wispern von Geheimnissen und vergangenen Tagen, die wir sammeln und archivieren. Wenn der Baum gefällt wird, ist das Kleine Indianer-Volk Geschichte.“
Naira ist schockiert. Bei dem kurzen Blick in die Wolken hatte sie sich schon tausend und ein Abenteuer ausgemalt, das sie mit Wanagi und dem Kleinen Indianer-Volk erleben wollte. Und jetzt war dieses so bezaubernde Volk in Gefahr? Keine Frage, dass sie es retten musste. Und verhindern, dass der Baum gefällt würde. Sofort sichert sie Wanagi und dem Kleinen Indianer-Volk ihre Hilfe zu. Am gleichen Abend möchte sie mit ihrem Vater über das Fällen des Baumes sprechen. Nachdem sie noch einige fröhliche Stunden mit den wunderlichen Wesen palavert hat, macht sie sich in der Abenddämmerung auf den Weg zu ihrem Wohnhaus.
Ihr Vater ist leider sehr davon überzeugt, den Baum fällen zu müssen. „Naira, der Baum ist morsch. In letzter Zeit habe ich da ein komisches Zittern bemerkt, wahrscheinlich sind das Baumkäfer, die ihn von innen auffressen und eines Tages umstürzen lassen. Und weil du dort immer herumstreifst, ist es zu gefährlich, den Baum stehen zu lassen. Morgen früh werde ich ihn fällen.“
„Aber Papa!“
„Nein, keine Diskussion. Du musst jetzt schlafen!“
Naira ist wirklich müde, aber versucht ihre Augen mit aller Kraft aufzuhalten. Sie muss doch wach sein, wenn ihr Vater schon frühmorgens den Baum fällt! Und irgendwas muss ihr einfallen, um ihn doch noch zu überzeugen, den Baum zu verschonen!
Doch irgendwann sieht sie nur noch Wolken und …
Naira erwacht. Vom Geräusch einer Motorsäge. Es ist der nächste Morgen. Sie springt auf, hellwach, weil dieses Geräusch nur eins bedeuten kann. Sofort beginnt sie zu rennen und schlägt sich durch Büsche und Schleichwege, um so schnell wie möglich zur alten Eiche zu gelangen. An einem Gebüsch mit Dornen kratzt sie sich die Hand auf, merkt es aber nicht mal. Ihre Gedanken gelten einzig Wanagi und seinem Volk. Wie konnte sie nur einschlafen! Was, wenn sie zu spät kommt? Schneller! Schneller! Sie sieht schon die Eiche und die Motorsäge.
„HALT! STOP!!“ schreit Naira. Sie fuchtelt wild mit den Armen, da die Motorsäge sich in diesem Augenblick gefährlich dem Baumstamm nähert. In diesem Moment bemerkt ihr Vater sie und lässt die Säge sinken.
„Naira, Liebes, was ist los??“ Völlig außer Atem kommt Naira zum Stehen. „Papa!“ japst sie. „Papa, du darfst diesen Baum nicht fällen! Dort lebt doch das Kleine Indianer-Volk!!“
„Ich sagte doch schon, der Baum ist morsch! Und was soll das überhaupt sein, ein Kleines Indianer-Volk? Sind das welche von deinen unsichtbaren Freunden?“ „Nein Papa, die gibt’s wirklich!! Ich kann es dir beweisen! Schau genau hin!“
Naira geht ganz dicht ans Holz. Wanagi schaut sie mit großen Augen an. Man sieht ihm den Schreck über die laute und so nahe Motorsäge an. Viele andere des Kleinen Indianer-Volkes haben sich verkrochen und lugen hinter der Bäumen und Sträuchern auf der Mini-Ranch hervor.
Naira nimmt Wanagi hoch und setzt ihn auf ihre flache Hand. Ihr Vater nimmt die Schutzbrille, die er getragen hat ab und kneift die Augen zusammen. Die Magie eines Träumers verliert sich mit dem Alter ein wenig. Diese erwachsen gewordenen Träumer können dann nicht mehr alles Fantastische erfassen, bemerken es aber doch irgendwie. Somit sieht er zwar nicht Wanagi, aber doch wieder das komische Zittern, von dem er dachte, dass es ein Zeichen für die Käfer im Baum sei. Irgendwie spürt er nun aber auch, dass da etwas ist. Leicht verwundert blickt er zur alten Eiche und bemerkt an der Stelle der Mini-Ranch ebenfalls dieses Zittern. Er zwinkert ein paar mal, aber der Eindruck verschwindet nicht.
„Naira... ich wollte diesen Baum jetzt gern fällen...“ hört er sich wie von ferne sagen.
Da erhebt sich ein kleines Rauschen in der Eiche und irgendwie scheint sie etwas zu flüstern.
Nairas Vater schüttelt leicht den Kopf, als wollte er dieses Gefühl von Erhabenheit, das ihn überfällt, abschütteln. Aber er merkt, dass große Kraft von der Eiche ausgeht und er diesen Baum unmöglich fällen kann. Als er dann noch zum Himmel aufblickt, ballen sich die Wolken zu einem Fantasiewesen: Der Wolkenhund! Eine Erinnerung blitzt auf. Auch er kannte das kleine Indianer-Volk...
LVDS